DFB-KULTURSTIFTUNG | 2022
Kulturstadion
TREFFPUNKT BUCHMESSE
Nach zwei Jahren Pandemie feierte die Frankfurter Buchmesse im Oktober 2022 einen Neustart. Und mit ihr das traditionsreiche „Kulturstadion“ mit tollen Autoren, Fußballern, Künstlern, Kritikern – und natürlich jeder Menge neuer Bücher.
Es war 2006, als sich Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki dem Sport zuwandte und auf typische, keinen Widerspruch duldende Art zum Verhältnis zur Literatur ausführte: Beide seien sich ähnlich, zu ähnlich im Grunde, und deswegen so etwas wie „feindliche Brüder“. Im Sport sei all das enthalten, was auch die Literatur auszeichne:
„Heldentum, Leidenschaft, Solidarität, Ruhmsucht (…). Was die Literatur dem Leser bietet, kann man auch im Stadion finden, ohne Verschlüsselung, ohne Intellekt, ganz und gar unkompliziert.“
Umso schöner, so möchte man ihm posthum zurufen, dass es längst einen Ort gibt, an dem sich Fußball und Literatur zum – um im Bild zu bleiben – versöhnenden Gespräch begegnen: Im „Kulturstadion“ nämlich, der seit 2008 regelmäßig von der DFB-Kulturstiftung und der LitCam veranstalteten Lese- und Veranstaltungsbühne auf der Frankfurter Buchmesse. Hier treffen sich Autoren, Spieler, Trainer, Funktionäre, Journalisten und Wissenschaftler aller Geschlechter zum Austausch über die Themen der Saison. Und natürlich auch, um neue Bücher vorzustellen.
So auch Christoph Biermann mit seinem Werk „Um jeden Preis“, das im Untertitel nicht weniger als „die wahre Geschichte des modernen Fußballs“ verspricht und das auf die Entwicklungen seit 1992 schaut. Warum 1992? In jenem Jahr brach mit dem Start des privaten Fernsehfußballs in Deutschland, mit der Gründung der Champions League und der Premier League finanziell ein „goldenes Zeitalter“ an. Allerdings war die Geldspritze, wie man heute weiß, verbunden mit Risiken und Nebenwirkungen: Fantasie-Ablösesummen und -Gehälter zum Beispiel oder Klubs im Besitz von Oligarchen, Scheichs und Hedgefonds. Zur Diskussion dieser Reizthemen traf Biermann mit DFB-Präsident Bernd Neuendorf, studierter Historiker, auf einen kompetenten Gesprächspartner, der sich, moderiert von Sven Voss, zusammen mit Biermann im anspruchsvollen intellektuellen Spagat des Fußballs zwischen Volkskultur und Wirtschaftsmacht übte.
Das viele Geld, so weit herrschte Einigkeit, habe sehr viel Gutes bewirkt: sichere und familienfreundliche Stadien, steigende Zuschauerzahlen, ein breites Interesse in allen Gesellschaftsschichten, ein tolles Spielniveau, schließlich auch den Aufschwung des Frauenfußballs. Allerdings habe die „Gentrifizierung des Fußballs“ (Neuendorf) – seine ökonomische, nicht immer die Erwartungen von Fans und Zuschauern einbeziehende Orientierung – den Begriff des „modernen Fußballs“ laut Biermann zum Synonym für einen Sport gemacht, in dem alles als käuflich erscheine: Spieler, Klubs, sogar Weltmeisterschaften. Während der DFB-Präsident den Wert des deutschen 50+1-Modells gegenüber dem englischen Investorenmodell hervorhob und die Super League als eine „Abkapselung des Mega-Kapitals“ geißelte, setzte Biermann zu einem Plädoyer für die Fans und Zuschauer an: Diese seien als „emotionale Miteigentümer“ ein zentrales Element der Erfolgsstory Fußball, indem sie sein „emotionales Schwungrad“ durch ihre Zugehörigkeitsgefühle erst in Gang setzten. Man müsse, brachte es Biermann abschließend auf den Punkt,
„die Balance, was am Fußball toll ist und was daran problematisch ist, austarieren“.
Das nicht immer einfache Verhältnis von Tradition und Moderne zog sich als roter Faden durch weitere Gesprächsrunden und Buchpräsentationen. So stellten sich Vize-Weltmeister Marco Bode und Autor Dietrich Schulze-Marmeling anlässlich der Vorstellung von „Haben Traditionsvereine eine Zukunft?“ die Frage, wie es 2021 zum Abstieg von Werder Bremen kommen konnte und warum sich viele Traditionsvereine im modernen Fußball schwertun. Mit der WM in Katar beherrschte zudem ein weiteres kritisch diskutiertes Thema die Gespräche. Autor René Wildangel diskutierte mit Staatsministerin Claudia Roth über die Bedeutung des Fußballs im Nahen Osten. Die frühere Leichtathletin Sylvia Schenk (Transparency International Deutschland) und Willi Lemke, Ex-UN-Sonderberater für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung, stellten die Frage, was aus dem exemplarischen Dilemma der Spiele in Katar für kommende globale Sport-Events zu lernen sei.
Bei so viel kritischer Diskussion kam aber auch die Literatur nicht zu kurz. Neben der deutschen und spanischen Autoren-Nationalmannschaft, die u. a. über „Idole und Ikonen“ lasen und sprachen, setzte der bekannte französische Autor Olivier Guez mit dem „Lob des Dribbelns“ tatsächlich zu einer Hymne an den Fußball an und feierte den südamerikanischen Fußball und die Erkundung der Kunst des ballgewandten Austanzens. Wer darüber hinaus noch erfahren wollte, welche Leidenschaft Nobelpreisträger Günter Grass mit dem Fußball verband, wie es mit dem Fußball der Frauen und nicht zuletzt mit der UEFA EURO 2024 vorwärtsgeht, oder wer ein Special zum Europa-League-Sieger Eintracht Frankfurt erleben wollte, dem hat der Besuch im „Kulturstadion“ auch in diesem Jahr richtig Spaß gemacht. Schade nur, dass Marcel Reich-Ranicki das nicht mehr erleben durfte.