Leuchtturm / DFB-Kulturstiftung

BÄLLE ZWISCHEN BUCHDECKELN

Seit zehn Jahren ist das »Kulturstadion« auf der Frankfurter Buchmesse ein Treffpunkt für Freundinnen und Freunde von Fußball und Literatur. Nirgends sonst gibt so viele neue Fußballtitel und bekannte Gäste aus Fußball und Kultur. Brehme, Calmund, Völler, Hrubesch, Seeler, Rehhagel oder Löw – sie allen waren schon da. Dabei galten Fußball und Literatur lange nicht als Traumpaar. Wir schauen auf ein komplexes Verhältnis.

 

Der verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist nicht als leidenschaftlicher Fußballfan in Erinnerung. Tatsächlich hat er sich im Laufe seines publizistischen Lebens nur ein einziges Mal zum Fußball geäußert. In einem F.A.Z.-Interview während der WM 2006, als keine öffentliche Person am Fußball vorbeidribbeln konnte: Er habe in seinem ganzen Leben nur ein einziges Spiel im Stadion erlebt, und das sei schon 75 Jahre her. Ein Ausdruck bemerkenswerter Interesselosigkeit, zumal viele seiner intellektuellen und literarischen Zeitgenossen als glühende Fußballanhänger gelten. Man denke nur an Günter Grass, Walter Jens, Jean-Paul Sartre oder Albert Camus, der sagte: »Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.«.

 

Gleichwohl formulierte Reich-Ranicki im selben Interview ein einprägsames Bonmot zum grundsätzlichen Verhältnis von Sport und Literatur:

 

»Sport und Literatur sind nahe Verwandte, die sich ähneln. (…) Sie ähneln sich zu sehr, um sich aufrichtig lieben zu können. Es sind im Grunde feindliche Brüder. Die fundamentalen Emotionen, mit denen sich die Literatur befasst – Heldentum, Leidenschaft, Solidarität, Ruhmsucht –, dominieren auch in den Sportwettkämpfen. (…) Was die Literatur dem Leser bietet, kann man auch im Stadion finden, ohne Verschlüsselung, ohne Intellekt, ganz und gar unkompliziert.«

Marcel Reich-Ranicki

 

Umso schöner, so möchte man Reich-Ranicki posthum zurufen, dass es heute einen Ort gibt, an dem sich Fußball und Literatur zum – um im Bild zu bleiben – versöhnenden Gespräch begegnen: Im »Kulturstadion« nämlich, der seit 2013 jährlich von der DFB-Kulturstiftung und der gemeinnützigen LitCam GmbH organisierten Lese- und Veranstaltungsbühne auf der Frankfurter Buchmesse. Hier treffen sich Autoren, Spieler, Trainer, Funktionäre, Journalisten und Wissenschaftler aller Geschlechter zum Austausch über die Themen der Saison. Und vor allem natürlich, um neue Bücher vorzustellen. Tatsächlich war die WM 2006 rückblickend ein Wendepunkt im bis dato nicht eben innigen Verhältnis von Fußball und Literatur. Gab es zuvor nur die mehr oder weniger privat ausgelebten Liebschaften von Schriftstellern, Künstlern und Kulturschaffenden mit dem Fußball, feierten nun viele ihr Coming-out, was auf dem Buchmarkt zu einer regelrechten Hausse der Fußball-Literatur jeglicher Couleur führte. Nachdem die DFB-Kulturstiftung 2008 mit einem Kulturfestival anlässlich des Ehrengastes Türkei ihre Premiere auf der Buchmesse gegeben hatte, entwickelte sich das »Kulturstadion« zu einem attraktiven Forum für alle Spielarten und Querschnittsmengen von Fußball und Literatur.

 

Wie beispielsweise die Belletristik, die schöne und unterhaltsame Literatur, das jogo bonito des Fußballbuchs. Zwar gibt es inzwischen zahlreiche Beispiele lyrischen, dramatischen und epischen Schaffens auf diesem weiten Feld, wie zum Beispiel die Oden von Albert Ostermaier oder die Prosa von Moritz Rinke. Noch scheinen sie als Ausnahmen aber eher eine Regel zu bestätigen, die zwei andere aktive Autoren-Nationalspieler, Benedikt Wells und Andreas Merkel, in einer früheren Ausgabe des »Kulturstadions« vorsichtig in Frageform diskutierten: Warum gibt es bis heute keinen großen deutschen Fußballroman? Und das, wo doch etwa in der US-amerikanischen Literatur Giganten wie John Updike regelmäßig auf hohem Niveau über Sport schreiben? Denn noch gibt es im deutschen Sprachraum trotz Klassikern der Sechziger- und Siebzigerjahre wie Ror Wolfs Texten und Peter Handkes »Angst des Tormanns beim Elfmeter« keinallseits anerkanntes Meisterwerk. Allerdings scheint sich das Spiel langsam zu verlagern. In den letzten Jahren standen mit Philipp Winkler (»Hool«, 2018) und Tonio Schachinger (»Nicht wie ihr«, 2019) die fußballbezogenen Romane von zwei Nachwuchsautoren auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2023 trug Thomas Brussig aus »Mats Hummels auf Parship« vor, dem letzten Teil seiner Fußballtrilogie nach dem Monolog »Leben bis Männer« (2001) und der Litanei »Schiedsrichter fertig« (2007). Es tut sich also etwas im fußballliterarischen Olymp.

 

Ein künstlerisch weniger anspruchsvolles, dafür boomendes und oft auch unterhaltsames Genre der Fußball-Literatur ist die Autobiografie. Sorgte Toni Schumacher mit seinem Werk »Anpfiff« 1987 noch für einen Skandal, der ihn den Platz im Tor des 1. FC Köln und in der Nationalmannschaft kostete, gehört es heute zum guten Ton, seine Lebenserinnerungen während oder kurz nach Ende der aktiven Karriere zwischen Buchumschlägen zu verewigen. So etwa die im Kulturstadion 2023 vorgestellten Werke von Schiedsrichter Felix Brych (»Aus kurzer Distanz«) und Stürmer Nils Petersen (»Bankgeheimnis«), die dem Publikum aus den Perspektiven von zwei intelligenten und interessanten Persönlichkeiten spannende Einblicke hinter die Kulissen des großen Fußballs boten. Andere Spieler ließen sich mehr Zeit mit ihren Memoiren: Der Zufall wollte es, dass ein gutes halbes Jahr vor der UEFA EURO 2024 Europameister aus drei Generationen ihre Lebenserinnerungen vorstellten: Wolfgang Overath (Europameister 1972), Felix Magath (Europameister 1980) und Markus Babbel (Europameister 1996). Wer den Fußball im Sinne von Reich-Ranicki als Spielfeld unverschlüsselter menschlicher Emotionen begreift, »Heldentum, Leidenschaft, Solidarität, Ruhmsucht«, der fand in den Lebenserzählungen der EURO-Helden manch erzählerischen Abglanz ihrer Triumphe und Tragödien.

 

Solange gut geschriebene Fußballbücher die Lust am Lesen wecken und damit gerade für junge Leserinnen und Leser auch die Tür zur Bildung und damit zu neuen Lebenschancen öffnen, waren und sind Fußball und Literatur ziemlich beste Freunde.

 

Ein weiterer Beleg für das seit 2006 wachsende Prestige der Fußball-Literatur ist die von der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur in Nürnberg jährlich verliehene Auszeichnung »Fußballbuch des Jahres«. Da der Preisträger 2023 Christoph Biermann seinen Siegertitel »Um jeden Preis« bereits im »Kulturstadion« 2022 im Talk mit DFB-Präsident Bernd Neuendorf vorgestellt hatte, blieb anno 2023 nur die Speku­lation darum, wem die Auszeichnung im Jahr 2024 wohl zugedacht werden mag. Wobei derjenige gute Chancen haben dürfte, der auf einen (möglicherweise historischen) Sachbuchtitel oder eine Biografie setzt. Das legt zumindest ein Blick auf die Preisträger der vergan­genen Jahre nahe. Der zweimalige Sieger Bernd-M. Beyer gewann die Auszeichnung 2018 mit der Biografie des Ex-Bundestrainers Helmut Schön und 2021 mit einem gesellschaftspolitischen Blick auf das Spieljahr 1971/72 (»Die Saison der Träumer«). Der dreifache Preisträger Ronald Reng bot am biografischen Beispiel eines Spielers, Trainers und Sportdirektors (»Spieltage«, 2014), eines Bundesliga-Scouts (»Mroskos Talente«, 2016) sowie von talentierten Nachwuchsspielern (»Der große Traum«, 2022) biografisch geprägte Blicke hinter die Glanzfassade der Bundesliga. Nach den zuweilen bleiernen Fußballbuchzeiten vor den 2000er-Jahren, als der Nischenmarkt von mehr oder minder ambitioniert geschriebenen Vereinschroniken, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft produzierten WM- und EM-Bildbänden oder von alten Sportreporter-Haudegen verfassten Spielerbiografien beherrscht wurde, stehen die anspruchsvollen Sachbücher, zumindest nach Auffassung der Nürnberger Akademie-Mitglieder, qualitativ an der Tabellenspitze der Fußball-Literatur.

 

Keine Rolle bei der jährlichen Preisverleihung spielen hingegen die vielleicht einflussreichsten, manchmal sogar kommerziell erfolgreichsten Fußballtitel: die Kinder- und Jugendbücher. Am populärsten ist zweifellos die Reihe der »Wilden Fußball-Kerle« mit mehr als 20 Millionen international verkauften Büchern und Audios sowie über zehn Millionen Kino-Zuschauern. Ihr Autor und Regisseur Joachim Massanek sprach zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Kinofilms mit Podcaster Basti Red im »Kulturstadion« darüber, wie sich der Blick von Kindern und Jugendlichen, nicht nur auf den Fußball, in den letzten zwei Jahrzehnten verändert hat. Neben den »Fußball-Kerlen« gibt es Jahr für Jahre erfreulich viele schöne und ambitionierte Fußball-Kinder- und Jugendbücher, die das oft unterschätzte Genre für die DFB-Kulturstiftung spannend machen. Denn nicht erst seit den alarmierenden PISA-Studien ist bekannt, dass mehr als ein Viertel aller Viertklässler nicht richtig lesen kann, unter ihnen überproportional viele Jungen. Und da die beste Prävention gegen Analphabetismus darin besteht, schon im Kindesalter die Leselust zu fördern, und der Fußball bekanntermaßen gerade in dieser Altersklasse besonders populär ist, engagieren sich die DFB-Kulturstiftung und die LitCam gGmbH auf diesem Feld noch einmal besonders. Mit Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien wird nämlich alle zwei Jahre der »Lese-Kicker«, die Auszeichnung für die in sprachlicher Umsetzung und grafischer Gestaltung jeweils ansprechendsten Kinder- sowie Jugendbücher, ausgeschrieben. Prämiert werden Bücher, denen es in beispielhafter Weise gelingt, über das Thema Fußball fürs Lesen zu begeistern. Die preisgekrönten Titel werden von einer prominent besetzten Jury aus Fußball und Kultur auf der einen und von rund 100 Schulklassen auf der anderen Seite gewählt. Denn eines steht fest: Ob nun »feindliche Brüder« oder ein inniges Geschwisterpaar – solange gut geschriebene Fußballbücher die Lust am Lesen wecken und damit gerade für junge Leserinnen und Leser auch die Tür zur Bildung und damit zu neuen Lebenschancen öffnen, waren und sind Fußball und Literatur ziemlich beste Freunde.