Interview

NUR ANGST HABEN REICHT NICHT.

Am 31. Januar 2024 schritt Marcel Reif ans Pult des Deutschen Bundestages. Am Ende seiner Rede anlässlich der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus war nicht nur die Außenministerin zu Tränen gerührt. Der 74-jährige Fußballexperte und Grimme-Preisträger war nach seiner Zeit beim ZDF unter anderem Chefkommentator bei RTL und Premiere. Über viele Jahre kommentierte er die deutschen Länderspiele und die großen Champions-League-Partien. Heute beleuchtet er die Fußballszene im erfolgreichen Format »Reif ist live« und engagiert sich im Kuratorium der DFL Stiftung.

 

Herr Reif, bei Ihren Live-Übertragungen haben Sie vor deutlich mehr Menschen geredet. Hat es trotzdem ein bisschen gekribbelt, als Sie anlässlich des Holocaust-Gedenktags ans Rednerpult gegangen sind?

»Ein bisschen« ist die Untertreibung des Tages. Das hat mit, in ein Mikro, in irgendein Schaumstoffbällchen zu sprechen, nichts zu tun. Da sitzt der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Bundestagspräsidentin und das versammelte Plenum. Das war schon sehr aufregend. Gebe ich zu.

 

Sie haben dem Deutschen Bundestag einen Satz Ihres Vaters Leon Reif zurückgelassen: »Sei ein Mensch.« Droht es denn, dass wir diesen moralischen Imperativ verlieren?

Nicht so allgemein und nicht flächendeckend. Das wäre ja noch schöner. An manchen Stellen aber, glaube ich, geht etwas verloren. Gerade in Deutschland und gerade in der Beziehung, wie man mit andersartigen Menschen umgeht. Dabei ist jeder Mensch andersartig. Lassen Sie es mich besser so sagen: Es geht etwas verloren in dem, wie man mit dem anderen umgeht.

 

Müssen Hochrechnungen und Fantasien über Zwangsausweisungen deutscher Staatsbürger uns ängstigen?

Das muss einen nicht ängstigen, sondern entsetzen. Doch nur Angst haben reicht nicht. Wir müssen das verhindern.

 

Ihr Großvater ist im Holocaust umgebracht worden, Ihr Vater konnte gerade noch aus einem ins KZ fahrenden Zug befreit werden. Ihre Familie emigrierte Mitte der Fünfzigerjahre aus Polen über Israel nach Deutschland.

Ja. Und wir können über jede Einwanderungspolitik, über Mechanismen, über alles diskutieren. Aber wenn Dinge, die in diesem Land mal gang und gäbe waren, gewisse Denkweisen, wenn die sich wieder durchsetzen, dann hat Deutschland nichts begriffen. Dann hätte Deutschland seine zweite Chance vertan.

 

Auf die Correctiv-Reportage folgten Demonstrationen im ganzen Land. Endlich, dachten viele. In Ihrer Rede sprachen Sie vom »Wecken, wo nötig«. Der Satz Ihres Vaters stand dann auf unzähligen Demo-Papptafeln.

Ja, es ist schön, wenn die Botschaft viele Menschen erreicht hat. Der Satz ist ja auch von einer unfassbaren Einfachheit und Unmissverständlichkeit.

 

Gab es nach der Rede eine Reaktion, die Sie besonders gefreut hat?

Da habe ich keine Rangliste aufgestellt. Ich habe zu 99,99 Prozent wunderbare Reaktionen bekommen. Meine Rede war das Weitergeben einer Geschichte und einer Erkenntnis. Es kamen Rückmeldungen von Parteivorsitzenden und Handwerkern. Wissen Sie, so eine Rede ist zu einem bestimmten Zeitpunkt, und der ist schnell vergangen. Aber das Anliegen, die Sache ist wichtig.

 

»Ich finde, die Stiftungen machen das sehr gut. Der manchmal ausbleibende Applaus darf nicht dazu führen, dass man irgendwann beschließt, jetzt lassen wir es. Gutes tun und darüber reden. Und damit leben, dass die sehr schrillen Nebengeräusche des Fußballs manches übertönen.«

Marcel Reif

 

Gemeinsam mit Karl-Heinz Rummenigge waren Sie vor ein paar Jahren Bühnengast bei der Verleihung des Julius Hirsch Preises. Erinnern Sie sich noch an die Preisverleihung?

Ja, ich durfte damals die Laudatio für die Schickeria halten. Es wurde zu einer Preisverleihung mit Ecken und Kanten. Einerseits das Engagement der Münchner Ultras für die Erinnerung an den jüdischen Klubpräsidenten Kurt Landauer. Andererseits habe ich der Schickeria ja auch während der Laudatio ins Stammbuch geschrieben, wofür sie den Julius Hirsch Preis eben nicht bekommen haben. Das war ambivalent. Aber, das will ich auch sagen, die haben sich meine Kritik uneingeschränkt angehört, und wir konnten uns anschließend sehr gut darüber unterhalten. Mir hat das damals gefallen, dass man auch über strittige Punkte offen diskutieren konnte. In der Demokratie braucht es den lebendigen Diskurs. Und deshalb auch, weil Sie vorhin bei dieser einen Partei waren: Ein Ausschlussverfahren wird nicht funktionieren. Wir müssen mit den Menschen, die die AfD wählen, die solchen Gedanken nachhängen, mit denen müssen wir in den politischen Diskurs gehen, die müssen wir decouvrieren. Mir haben die Demonstrationen im Land Hoffnung gemacht. Da wurde verstanden, dass wir uns äußern müssen. Eine schweigende Mehrheit darf es nie wieder geben. Eine schweigende Mehrheit, die vermeintlich nichts mitbekommen hat, die nichts gewusst hat, und wenn, dann reagiert man mit einem »So schlimm wird es schon nicht werden«, so eine schweigende Mehrheit darf es nie wieder geben. Denn machen wir uns nichts vor: Es kann sehr schnell zu spät sein.

 

»Mir haben die Demonstrationen im Land Hoffnung gemacht. Da wurde verstanden, dass wir uns äußern müssen. Eine schweigende Mehrheit darf es nie wieder geben. Denn machen wir uns nichts vor: Es kann sehr schnell zu spät sein.«

Marcel Reif

 

Die DFB-Stiftungen machen sich stark für viele Anliegen, etwa für Inklusion, gegen Antisemitismus und für Fußballkultur. Wie erleben und bewerten Sie das soziale Engagement des Fußballs? Und ärgert es Sie genauso wie uns gelegentlich, wenn die Medien mal wieder nicht berichten?

Ja, das ist die Crux. Der Profifußball ist so laut geworden. Aber es wird Gutes getan, und es wird das Richtige getan. Der Fußball hat irgendwann und vielleicht gerade noch rechtzeitig begriffen, dass man mit Glanz und Gloria und allem, was damit einhergeht, auch eine Verpflichtung hat. Ich finde, die Stiftungen machen das sehr gut. Über das Stiftungsengagement und die vielen guten Geschichten wird selten berichtet, das stimmt, aber das zu beklagen, ist ein bisschen wohlfeil. Und der manchmal ausbleibende Applaus darf nicht dazu führen, dass man irgendwann beschließt, jetzt lassen wir es. Gutes tun und darüber reden. Und damit leben, dass die sehr schrillen Nebengeräusche des Fußballs manches übertönen.

 

Sie haben mal Wolfgang Overath getunnelt. Und sind unbeschadet rausgekommen. Wie kam es dazu?

Aus purer Erschöpfung war ich nicht mehr in der Lage, den Versuch zu wagen, an ihm vorbeizulaufen. Also habe ich dem Ball den kürzesten Weg gegeben. Und als es passiert war, wurde mir schlagartig klar, was ich da getan hatte. Einem Idol den Ball durch die Beine gespielt. Das war damals bei einem Hallenkick der Kölschen Altprofis. Einmal die Woche spielten die Granden, und die hatten mich eingeladen. Und dann passierte das. Ich habe versucht, das sofort mit Wolfgang Overath zu klären, und es hat unserem Verhältnis nicht geschadet. Wir mögen uns gern. Aber ich bin damals ein großes Risiko eingegangen.

 

Overath hat auch im vorgerückten Alter seinen Ehrgeiz nie verloren.

Wer mit Wolfgang Overath Fußball spielte, musste wissen, worauf er sich einlässt. Verlieren war keine Option.

 

Gab es für Sie als junger Spieler mal den Traum von der Profikarriere?

Ich war sehr nah dran, spielte in der A-Jugend des 1. FC Kaiserslautern. Dann zogen meine Eltern von Kaiserslautern nach Heidelberg. Möglicherweise hat mir das Schicksal damit einen Hinweis gegeben. Irgendwann wurde mir klar, dass mir einige der Zutaten fehlten, die es neben dem Talent noch für eine Profikarriere bräuchte. Die Erkenntnis kam mir Gottsei Dank rechtzeitig. So wie es am Ende gekommen ist, war es nicht verkehrt.

 

Wie beurteilt der Fußballfachmann Marcel Reif den Einfluss des Fußballjournalisten Marcel Reif? Haben Sie den Livekommentar präziser gemacht?

Jetzt überfordern Sie mich heillos. Ich bin nicht uneitel, aber über mich selbst sprechen … Jedenfalls war es nicht so, dass ich mir überlegt hätte, jetzt mache ich das mit dem Kommentar mal so. Beim Livekommentar über 90 Minuten, da können Sie nur so sein, wie Sie sind. Die Dauer meiner Hervorbringungen in dem Metier ist Beleg dafür, dass ich es nicht ganz verkehrt gemacht habe. Ich verstand mein Handwerk. Und damit meine ich Sprache und fachliche Kompetenz.

 

Wie viel Spaß bereitet Ihnen »Reif ist live«?

Sehr viel Spaß, sonst würde ich es nicht machen. Zweimal die Woche in Berlin, immer live. Das hält Disziplin. In dem Moment, wo ich zum ersten Mal sage, was bitte wurde gerade gefragt, woher soll ich das wissen, verspreche ich Ihnen, verlasse ich auf dem Absatz kehrtmachend das Studio.