HERBERGER, DER FUSSBALLSPIELER

Alle Welt kennt ihn als großen Trainer. Als Taktikfuchs, als Schlitzohr, als akribischen Arbeiter und feinfühligen Psychologen. Fast alle Aufgabenfelder, die Profiklubs heute auf viele Schultern verteilen, vereinigte Sepp Herberger in seiner Person. Zahllose Anekdoten aus dieser Zeit ranken sich um den Alt-Bundestrainer, seine lebensklugen Sätze sind Allgemeingut, nicht nur für Fußballfans. Kaum ausgeleuchtet und deshalb fast schon vergessen ist das Vorleben des „Chefs“ der Hel­den. Anlässlich seines 125. Geburts­tags am 28. März 2022 ist ein Blick auf seine erste Etappe in einem erfüllten Fußballer-Leben angebracht: Wie war eigentlich der Spieler Sepp Herberger, der in einer Zeit, als an Fernsehen noch gar nicht zu denken war, selbst Nationalspieler war? Das mag noch bekannt sein, vieles aber liegt im Dunkeln im Fußballer-Leben des Mannes, der einst sogar als „Deutschlands bester Mittelstürmer“ galt. Scheinwerfer an! 

Schon an der Frage nach Herbergers erstem Fußballverein werden viele scheitern, die eigentlich glaubten, es gewusst zu haben. Vor seinem Eintritt beim SV Waldhof Mannheim (1913) spielte der junge Sepp, der am 28. März 1897 in Mannheim zur Welt kam, ab 1911 für den örtlichen Katholischen Jugendverein (KJV). Wobei sich seine Liebe zum Fußball zunächst noch gegen andere Neigungen, die sportbegeisterte Kinder verspüren, durchsetzen musste. Der kleine Sepp ist eine Wasserratte, übt sich als Langstreckentaucher und Kunstspringer, läuft zudem gern Schlittschuh auf zugefrorenen Rheinkanälen. Fußball ist bis 1907 verboten an den Mannheimer Schulen, was die Kinder aus der Spiegelfabrik-Siedlung nur umso mehr reizt. „Verbotene Früchte sind ja wie allseits bekannt süß“, lesen wir in Herbergers Aufzeichnungen. Sie kicken mit allem, was sich kicken lässt, und mit dem Verkauf von Alteisen erwerben sie sich als besonderen Luxus Tennisbälle, was für den Anfang genügen muss.

Fußbälle bekommt das Kind zunächst nur als Zuschauer zu sehen, immer wenn es im Sonntagsanzug am Waldhof-Platz über den Zaun klettert, da das Geld für einen Jungen aus seinen Verhältnissen nie für den Eintritt reicht. 

1907 entflammt seine Liebe zum Fußball besonders heftig, als er Augenzeuge des in Mannheim stattfindenden Meister­schaftsfinales zwischen dem Freiburger FC und Viktoria Berlin wird. Auch die Spieler seiner Stadt finden in der Frühzeit des Fußballs überregionale Beachtung, der VfR und der SV Waldhof sind große Nummern im süddeutschen Raum. 

Sein Talent führt ihn früher als andere in die Elite seiner Heimatstadt. 1913 tritt er beim SVW ein und debütiert noch als 16-Jähriger an Neujahr 1914 in der ersten Mannschaft. Die hat nun einen kleinen, aber drahtigen Dribbelkünstler. Seine Position: Halblinker. Herberger charakterisiert sich als Spielertyp so: „Wenn ich sage, dass ich ein guter Spieler, Spielmacher und auch Torschütze war, dann weiß ich, dass dies Urteil auf Eigenerlebnis ausgeht und in Mannheim und dort, wo man mich gesehen hat, dies mein Urteil gerne bestätigen wird. Von der Art Begabung her war ich ein reiner Spielertyp, balltechnisch perfekt, quirlig am Ort und hurtig und spurtschnell, den kommenden Dingen im Spiel stets voraus, den Spielverlauf vorausschauend und oft auch maßgebend bestimmend.“

Der Krieg unterbricht nicht nur seine vielversprechende Karriere jäh, an Fußball ist nicht zu denken, Punktspiele setzen erst im Herbst 1919 wieder ein. Es beginnt die große Waldhof-Zeit, die reine Lust am Spiel ist das Erfolgsrezept der Elf. Herberger erinnert sich: „Wir hatten gar kein Programm. Das hat sich alles aus dem Spiel und unserer Spielkunst entwickelt. Unsere Freude am Spiel hat uns unbewusst das Rechte treffen lassen.“ Man spricht von „der Waldhof-Schule“, obwohl es offenbar keinen Lehrer gibt – nur Einser-Schüler. Der „H-Sturm“ wird zum Aushängeschild. Willy Hutter, Karl Höger und Herberger machen die Abwehrreihen verrückt. Das Trio schießt den SV Waldhof zur Meisterschaft im Odenwaldkreis 1920, quasi eine Südwest-Oberliga. Im Finale am 28. März, seinem 23. Geburtstag, schlägt Waldhof den Lokalrivalen VfR mit 4:1, Herberger schießt drei Tore, für die Lokalpresse ist es „sein größter Tag“. Zwei Wochen später schlagen sie den kommenden Deutschen Meister 1. FC Nürnberg in der Endrunde um die Süddeutsche Meisterschaft mit 2:1, das Siegtor glückt Herberger. Die „Süddeutsche Sportzeitung“ schreibt am 14. April 1920: „Herberger, der glänzende und technisch gut geschulte Halblinke, verdient es, in einer repräsentativen Mannschaft berücksichtigt zu werden.“ Am 27. Oktober 1920 urteilt das ganz neue Sportblatt „Kicker“: „Spieler wie Höger und Herberger sind unübertrefflich und einzig in ihrem spielerischen Können.“ Nach einem Sieg gegen Offenbach attestiert ihm die Süddeutsche Sportzeitung 1921, er sei „der geistige Leiter“ des SVW. In Zeiten, da Fußball noch nicht über den Bildschirm flimmert, sind derartige Empfehlungsschreiben karriereförderlich. 

Sepp Herberger klettert die Leiter sukzessive nach oben: Mannheimer Stadtauswahl, Odenwaldkreis-Auswahl, Süddeutsche Auswahl sind die nächsten Sprossen, die er 1920/1921 ersteigt, und in seinen Aufzeichnungen lesen wir: „1919-1926 in meiner Mannheimer Zeit bei allen repräsentativen Spielen von Stadt und Gau von vornherein Stammspieler … dann süddeutscher Repräsentativer.“ Am 22. Februar 1921 trifft er sich am Rande eines Spiels in München mit dem gerade bei den Bayern ausgeschiedenen Trainer William Townley, der Hintergrund bleibt unklar. Fakt aber ist, dass er sich schon 1921 mit dem Gedanken trägt, einmal Trainer zu werden.

Wochen später wird Waldhof erneut Odenwaldkreis-Meister und nimmt an der Süddeutschen Meisterschaft teil, weshalb Herberger seine geplante Hochzeit im April mit Ev verschieben muss – an dem Tag geht es gegen den 1. FC Nürnberg. Seine Auftritte auf großer Bühne haben Wirkung: Im September meldet sich der Spielausschuss des DFB. Herberger wird für das Länderspiel in Finnland nominiert und mit ihm der ganze H-Sturm. 

Seine erste große Auslandsreise erfolgt mit einem 3.000-Tonnen-Dampfer, der SS Ariadne, der in Bremerhaven ablegte. Herberger wähnt sich auf „einem Märchenschiff“ und erinnert sich noch lange an die exzellente Verpflegung. „Sardinen, Sardellen, Schweizer und holländischer Käse, Schinken, Wurst, Braten, vielerlei Brot – kurzum alles, was auch der größte Feinschmecker sich nur ausdenken kann“, heißt es im Fachblatt „Fußball“. Herberger ist angenehm geschockt: „Mein Gott, bei uns war doch vieles noch gar nicht wieder zu haben, alles war doch knapp.“ 

Dermaßen aufgepäppelt, gibt er ein prächtiges Debüt im DFB-Dress. Vor 6.000 Zuschauern in Helsinki ist er schon nach fünf Minuten auch Länderspieltorschütze, in der 75. Minute gelingt ihm ein weiteres Tor, am Ende heißt es 3:3 – doch Sepp Herberger zählt zu den Gewinnern. Herberger notiert Jahre später: „Ich hatte einen großen und durchschlagenden Einstand.“ DFB-Vizepräsident Felix Linnemann lobt ihn auf der Rückfahrt, er habe „einen großen Eindruck“ gemacht. Als er ihn dann noch in den Arm nimmt und ihm eine Ausbildung zum Sportlehrer an der gerade gegründeten Berliner Hochschule für Leibesübungen in Aussicht stellt, hängt sein Himmel voller Geigen. Der Weg zum Sportlehrer, der ihm in Mannheim verschlossen zu sein scheint, ist plötzlich vorgezeichnet. Weil ihm der SV Waldhof nur einen „Zigarettenladen“ angeboten hat statt einen Job als Sportlehrer, ist er nämlich bereits zum VfR und damit vom proletarischen ins bürgerliche Lager gewechselt. Aber der Fehler seines Lebens durchkreuzt seine Pläne. Herberger hat sich kurz vor der Abreise nach Finnland zunächst vom dritten Mannheimer Top-Klub Phönix für 10.000 Reichsmark abwerben lassen. Eine ungeheure Summe, die ihn regelrecht „narkotisiert“. Sie entspricht mehreren Jahresgehältern eines Facharbeiters und macht ihn nach Verbandsrecht zum „Berufsfußballer“ – und die sind im Deutschland vor 100 Jahren verboten. Herberger gibt das Geld auf Drängen seiner Frau Ev zwar nach acht Tagen wieder zurück. Aber das rettet ihn nicht. Phönix zeigt ihn (und sich selbst) aus Rache an. Im Oktober 1921 schießt er noch zwei Tore für den VfR, ausgerechnet gegen Phönix, dann schlägt die Verbandsjustiz zu.

Am 19. November 1921 wird er lebenslang gesperrt und „zum Berufsfußballer erklärt“. Herberger ist todunglücklich. „Die Bitternis dieser Sperre lag darin, dass meine Laufbahn als Nationalspieler fürs Erste gestoppt war.“ Immerhin darf er die VfR-Jugend trainieren. Noch aber will er selber spielen und legt Berufung ein. Tatsächlich wird Herberger am 26. März 1922 begnadigt und ist nach nur einem Jahr, ab dem 1. Oktober 1922, wieder spielberechtigt für den VfR.

Der DFB ist nachtragender als der Süddeutsche Verband, und so vergehen drei Jahre bis zum zweiten Länderspiel. Am 23. November 1924 kommen die Italiener nach Duisburg und wieder gibt es einen Mannheimer Sturm, der nun aber aus Höger, Meißner, Fleischmann und Herberger besteht. Das Quartett hat beim furiosen 7:2 der süddeutschen Auswahl gegen Berlin im „Bundespokal“ begeistert. Doch gegen Italien (0:1) gefällt nur einer von ihnen, obwohl die Zuschauer aufheulen, als er frei vor dem leeren Tor die Latte trifft: Sepp Herberger. Die Dresdner Sportzeitung „Kampf“ schreibt: „Herberger war oft gut, aber Blitz­lichtaufnahmen genügen nicht.“ Einer der wenigen kritischen Sätze, die sich in den von Herberger gesammelten Spielberichten über ihn finden. Weil er sich einen doppelten Unterarmbruch zuzieht und trotzdem (mit Schiene) bis zur 60. Minute durchhält, verdient er sich die Achtung der Zuschauer. 

Nur noch einmal trägt er das deutsche Trikot: am 29. März 1925 in Amsterdam gegen die Niederlande. Für den „Kicker“ ist er damals dank seiner acht Treffer für den VfR in der Südmeister-Endrunde „der beste deutsche Mittelstürmer“. Aber wieder gibt es eine Enttäuschung (1:2) und so endet seine DFB-Karriere ohne Sieg. Zum Trost wird er drei Wochen später mit dem VfR Süddeutscher Meister, schießt ein Tor gegen den FSV Frankfurt (2:0). Es bleibt sein größter Titel. 

Mit 28 wechselt er 1926 nach Berlin, wo er auf Betreiben von Otto Nerz bis 1930 für TeBe spielt, vor allem aber schon an der Akademie für Leibesübungen studiert und Sportlehrer ausbildet. Dafür verschwindet er allmählich aus dem Fokus. Bei TeBe wird er bei der Anmeldung ernsthaft gefragt, ob er etwas von Fußball verstehe. Man kennt ihn nicht in Berlin und so muss er in Testspielen der zweiten Mannschaft seine Befähigung erst nachweisen – die aber sofort aufblitzt, wie ein Reporter feststellt: „Herberger wirkt durch sein großes Können echt befruchtend auf den Tennis-Sturm.“ Berliner Meister wird er nie, es ist die große Hertha-Zeit. Immerhin bestreitet er noch zehn Spiele für die Berlin-Auswahl, das letzte wird zum Höhepunkt. Gegen eine Londoner Stadtauswahl spielt Sepp Herberger mit 31 Jahren im Oktober 1928 auf dem Platz des FC Wimbledon groß auf, nun geht er als Sieger (4:1). 

Zwei Faktoren waren es also, die Sepp Herberger nicht die ganz große Spielerkarriere ermöglichten, zu der er eigentlich berufen war: seine Sperre und sein frühzeitig entwickelter Wunsch, Trainer zu werden. Für den deutschen Fußball war Letzteres ein Segen.